Claas Relotius und Marie Sophie Hingst - Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Es sind zwei tragische Figuren, welche die Schlagzeilen der letzen Monate bestimmten, zwei Personen, die aus keinem erkennbaren Grund Dinge erfunden und sich in ihre Erfindungen hinein gesteigert haben, bis sie nicht mehr herauskamen. Hingst hat vermutlich Suizid begangen. Relotius ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, beruflich wie persönlich ruiniert und niemand weiß, ob er jemals wieder einen Fuß auf den Boden bekommen wird.

Gefressen von den Medien

Auffällig ist vor allem, wie sehr die Medien-Maschine auf Skandale ausgelegt ist. Relotius selbst hätte aus seinem Fall, ginge es nicht um ihn selbst, eine wunderbare Geschichte machen können. Stattdessen schreiben jetzt Andere über ihn. So mancher Medienmensch wird sich schon aus reiner Eifersucht an ihm abgearbeitet haben, diesem jungen Talent, das schon mit 30 mehr Preise gewonnen hat als manche Journalisten in ihrem ganzen Leben. Wie viel Häme wohl in den diversen Artikeln verarbeitet wurde, wie viele Leute haben sich wohl heimlich darüber gefreut, dass der Jungspunt öffentlich geteert und gefedert wurde. Hingst war zwar keine Journalistin, aber zumindest in ihren Kreisen ähnlich bekannt: Bloggerpreise, eingeladen zu Talkrunden, ein erfolgreiches Blog und das auch noch international und auch noch eine junge Frau - da mag so mancher eifersüchtig gewesen sein. Bekanntermaßen sind große Systeme zu einem großen Teil mit sich selbst beschäftigt: Das ist der Fall bei den Medien, aber auch bei Social Media. Deswegen haben solche Fälle auch immer zwei Seiten: Natürlich ist da die gefallene Person selbst, aber auch die Selbstkritik, die manchmal bis zur Selbstkasteiung neigt. Dabei nehmen sich die Selbstkritiker auch gerne selbst zu wichtig: Das System hat seine eigene, merkwürdige Logik und manchmal fachen die Kritiker den Hype nur an, statt ihn zu bremsen.

Das Versagen des Systems im Umgang mit psychischen Erkrankungen

Was mich sehr traurig macht ist das Versagen der Gesellschaft und insbesondere der medien, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Bei Hingst ist es relativ sicher, bei Relotius bin ich mir relativ sicher, dass eine psychische Störung vorliegt, auch wenn ich normalerweise nichts von solchen Spekulationen halte. Es ist richtig, dass beide gelogen haben, allerdings haben beide mit ihren Schwindeleien keine monetären Absichten verbunden. Meines Wissens hat keiner von den beiden großartig Geld mit ihren Taten verdient. Geschickte Betrüger können Millionen von Euro verdienen und wahrscheinlich würde man ihnen eher verzeihen als diesen beiden jungen Leuten. Was steckt aber dahinter? Es scheint eine große Sehnsucht nach Anerkennung zu sein, welche die beiden getrieben hat. Frau Hingst hat sich vermutlich durch ihre Tätigkeit als Historikerin dazu treiben lassen, sich als Nachkommin von Holocaust-Überlebenden auszugeben. Bei Relotius dominierte das Talent, Geschichten zu erzählen, es fehlte aber wohl das journalistische Talent. Vielleicht wäre er ein großer Schriftsteller geworden, vielleicht wird er das auch noch. Hingst scheint sich irgendwann selbst in ihre Phantasiewelt hinein gesteigert zu haben. Man kann nur spekulieren, aber villeicht hat sie irgendwann ihre eigenen Phantasien geglaubt. Bei psychischen Erkrankungen ist das durchaus möglich. Auch bei Relotius scheint dies der Fall zu sein: Ja, er hat viel Aufwand getrieben, um seine Lügengeschichten zu tarnen und zu schützen, aber auch das ist im Rahmen psychischer Erkrankungen möglich. Man kann sich kaum vorstellen, von welchen Ängsten dieser Mann getrieben worden wurde. Vielleicht war er sogar froh, als die Geschichte Ende 2018 ihr vorläufiges Ende fand: Denn rational muss er gewusst haben, dass ihm das irgendwann um die Ohren fliegen würde.

Ein Nachgeschmack bleibt

Eine Frau ist tot, ein Mann abgetaucht, die Medien und Shitstormer aus den Social-Media-Kanälen ahben sich anderen Themen zugewandt. Es bleiben ein paar halbherzige Aufhellungsversuche und ein fader Beigeschmack: Frau Hingst wurde allem Anschein nach von den Medien, der Social-Media-Gemeinde und der Wikipedia sozial hingerichtet, bevor sie Suizid beging. Dabei spielt es keine Rolle, ob und wie stark sie psychisch erkrankt war. Man geht nicht so mit anderen Menschen um. Es ist ganz richtig angemerkt worden, dass sie - und auch Relotius - keine Personen des öffentlichen Lebens waren. Mir waren beide Namen zuvor unbekannt. Auch wenn Menschen ein wenig stärker in der Öffentlichkeit stehen, hat niemand das Recht, so mit ihnen umzugehen. Wann haben wir verlernt, respektvoll miteiander umzugehen. Und das Schlimme ist, dass es wieder und wieder passieren wird. Das System sollte lernfähig sein, ist es aber nicht.

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