Das Ende des Westens - wie wir ihn kannten

Es ist nicht so lange her, dass westliche Staaten mit einer Handvoll Soldaten ganze Weltregionen beherrschen konnten. Wir erinnern uns an die verschiedenen Spielarten des Imperialismus: Vor allem England und Frankreich hatten den größten Teil der Welt untereinander aufgeteilt. Man muss daran erinnern, dass beide Staaten damals viel dünner besiedelt waren und gleichzeitig mehr Menschen in ihren Armeen hatten als heute. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts betrachteten die USA Lateinamerika und die Karibik als ihren Hinterhof, wo sie mit Hilfe willfähriger Regime schalten und walten konnten, wie sie wollten. Die Sowjetunion hatte abgesehen von ihrer geografischen Größe nicht die Relevanz, denn sie hatte kaum militärische Macht.
Aus dem Zerfall der alten bilateralen Weltordnung kristalliert sich die neue multilaterale Weltordnung. Da ist die USA als derzeit einzige Weltmacht mit militärischer, wirtschaftlicher und politischer Macht. Da ist die Europäische Union, ein wirtschaftlicher Riese und ein politischer Zwerg. Daneben gibt es alte Mächte wie Russland, China, die Türkei, den Iran und Indien, die versuchen, regionale Macht zu erlangen bzw. zu stärken.
Zankäpfel sind hier die Staaten Zentralasiens vor allem für die Anreiner China, Russland und die Türkei. China versucht mit viel militärischer Macht, Südostasien unter seine Kontrolle zu bringen. Russland und teilweise die Türkei konkurrieren in Teilen Osteuropas. Von diesen Staaten hat tatsächlich nur China die Chance, mehr als regionale Macht zu werden.
Im Nahen Osten sieht die Sache ein wenig anders aus. Während die Türkei in Teilen Zentralasiens oder Osteuropas durchaus Freunde hat, haben die ehemaligen osmanischen Staaten kein Interesse an einer Hegemonie der Türkei oder des Irans. Russland und China hätten also durchaus Chancen, hier wirtschaftlich Fuß zu fassen, zumal die autoritären politischen Systeme sich relativ nahe stehen.
Gleichzeitig bauen vieler dieser Staaten ihre Beziehungen zu Afrika aus. Während die EU Afrika vor allem als Risiko betrachtet, investieren die anderen Staaten in Afrika.
Währendessen haben die EU und die USA traurig versagt und zugleich an Anziehungskraft eingebüßt. Die USA sind kriegsmüde und haben kein Interesse mehr an der Weltbühne. Die EU hat viel an Anziehungskraft und kultureller Hegemonie eingebüßt. Auch das demokratische Modell hat an Attraktivität verloren. Die Welle der Demokratisierung in den 80ern und 90ern ist zu Ende. Die Hoffnung, der Rest der Welt würde sich demokratisieren, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr sind Entwickklungs-Diktaturen wie China oder Singapur beliebter denn je. Durch neue Waffentechnik ist es für den Westen nur unter erheblichen Kosten möglich, gewinnführend in einen Krieg zu intervenieren. Wirtschaftlich spielt der Westen natürlich noch die Schlüsselrolle, hat aber Anteile an China, Indien und Südostasien abgeben müssen. Selbiges gilt für die Wissenschaft: China ist bereits eine Großmacht bei der KI, Indien hat still und heimlich eigene Impfstoffe entwickelt - noch vor wenigen Jahren undenkbar. Taiwan beherrscht die elementare Chiptechnik und Herstellung.
Sam Huntington würde staunen, wie schnell sich die Konfliktlinien gewandelt haben. Gerade linke Politikwissenschaftler haben die Situation völlig falsch eingeschätzt. China, die Türkei und Russland können gleichzeitig zusammenarbeiten und Konkurrenten sein. Die BRICS spielt keine Rolle mehr. Ein Megakonflikt könnte zwischen den Riesen-Staaten China und Indien ausbrechen. Der Westen ist nicht in der Lage, eine eigene Strategie zu entwickeln bzw. mit einer Stimme zu sprechen.

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